hr-iNFO-Reporter Michael Przibilla war damals vor Ort und hat von der Tat berichtet.
Mehr bei hessenschau.de: NSU-Mord in Kassel – was wann geschah
Die Rekonstruktion
Ungeklärte 41 Sekunden
16:51 Uhr. Klar ist: Von 16:51 bis 17:01 Uhr war der Verfassungsschützer Andreas Temme am PC-Platz 2 des Internetcafés unter dem Pseudonym „wildman70“ in der Kontaktbörse iLove.de angemeldet. Von seinem Platz hatte er eine eingeschränkte Blickmöglichkeit in den angrenzenden Eingangsraum des Cafés. Dort stand um die Ecke die Ladentheke, hinter der wenige Minuten später Halit Yozgat erschossen werden sollte. Ein jugendlicher Zeuge sagt, er habe Temme mit einer Tüte in der Hand kommen sehen und ein „dumpfes Geräusch“ gehört, nachdem Temme seinen Computerplatz verlassen hatte. Er belastete Temme damit zunächst schwer und trug zu seiner zeitweiligen Untersuchungshaft bei. Der Zeuge galt aber später wegen seines Drogenkonsums als unglaubwürdig.
17:01 Uhr. Um diese Zeit will der Iraker in der Telefonzelle Knallgeräusche vernommen haben. Das könnte der Zeitpunkt des Mordes gewesen sein, so die Kasseler Ermittler. Der Iraker sagte, er habe mit dem Rücken zur Tür gestanden und unbeeindruckt vom Geräusch weiter telefoniert.
Etwa 17:02 Uhr. Andreas Temme, der sich um 17:01:40 Uhr ausgeloggt hatte, geht von seinem Computer im Hinterzimmer in den vorderen Eingangsraum des Internetcafés. Er will bei Halit Yozgat bezahlen. An der Ladentheke sei aber niemand gewesen. Temme beteuert seitdem immer wieder, er habe Yozgat nicht gesehen. Er sei kurz vor die Tür gegangen, um draußen nach ihm zu schauen. Danach sei er wieder hinein in den Eingangsraum gegangen und habe, ohne weiter hinzuschauen, wortlos 50 Cent auf die Theke gelegt. Danach sei er gegangen. Das geschah laut Polizei spätestens um 17:02:45 Uhr.
17:02:45 Uhr. Ab jetzt bleiben ungefähr 41 Sekunden ungeklärt, bis um 17:03:26 Uhr. Um diese Zeit beendet der Iraker in der Telefonzelle sein Telefonat und geht in den Ladenraum. Auch er habe zunächst nach Halit Yozgat gesucht, um zu bezahlen. Zu diesem Zeitpunkt muss nach übereinstimmenden Zeugenaussagen die Tat allerdings schon geschehen sein und Halit Yozgat blutend hinter der Ladentheke gelegen haben. Wenn die Version von Verfassungsschützer Temme stimmt, und er das Café verlassen hat, bevor Schüsse fielen, hätten die Täter sehr wenig Zeit für ihren Mord und für die unerkannte Flucht gehabt – eben jene 41 Sekunden zwischen Temmes Verlassen des Cafés und dem Ende des Telefonats des Irakers.
Gegen 17:05 Uhr. Ismail Yozgat findet laut Polizeiprotokoll seinen Sohn blutend hinter der Theke. Der Vater schreit so laut, dass ein 16-jähriger Jordanier aus dem hinteren Computerraum nach vorne stürmt und Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführt. Ohne Erfolg. Im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages heißt es: „Das Ermittlungsverfahren konnte nicht klären, ob Andreas Temme den Tatort bereits zum Tatzeitpunkt verlassen hatte oder nicht.“
Noch mehr Rätsel: die Tatortfotos
Die Tatortfotos wurden in den ersten Tagen nach dem Mord an Halit Yozgat aufgenommen. Sie zeigen den Blick vom Eingangsbereich auf die Ladentheke (oben links). Durch den Durchgang links im Bild geht es in den hinteren Raum des Internetcafés, in dem Andreas Temme saß – auf Platz 2 (zu sehen oben rechts). Die unteren Fotos zeigen Aufnahmen von der Ladentheke – im Falle der Münzen konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden, von wem sie stammen und wann sie dorthin gelegt wurden. Fingerabdrücke davon wurden nicht genommen. Unklar bis heute auch: Warum liegen einige Gegenstände auf weiteren Tatortfotos, die etwas später aufgenommen wurden, an anderen Stellen? Eigentlich hätte am Tatort nichts verändert werden dürfen. Diese Frage konnte auch im Untersuchungsausschuss nicht beantwortet werden.
Das Polizeivideo zeigt die Rekonstruktion der Bewegungen Temmes am Tattag. Er hatte sich ausgeloggt und wollte bezahlen, hat Halit Yozgat aber – so seine Aussage – nicht gesehen.Die Ermittler konnten also nicht eindeutig klären, ob Temme zum Tatzeitpunkt am Tatort war. Für den Journalisten Dirk Laabs, der sich seit Jahren mit dem Fall NSU beschäftigt, ein „völliges Rätsel, wie man noch glauben kann, dass er nicht da war.“ Auch wenn der konkrete Beweis fehlt, hält er die Indizienkette – über Zeugenaussagen und die Telefon- und Internetprotokolle um den Tatzeitpunkt herum – für lückenlos. „Alles andere würde jeder Lebenserfahrung widersprechen“ – so lautet eine Standardformulierung zur Urteilsbegründung in der Rechtssprechung. „Und so ist es hier auch“, ist Laabs überzeugt. Inzwischen geht auch der Senat des Oberlandesgerichts München, wo derzeit der NSU-Prozess stattfindet, davon aus, dass sich Temme zum Zeitpunkt des Mordes noch im Internetcafé befand.
Telefonate mit rechtsextremem V-Mann am Tattag
Richter halten Temmes Aussage für glaubhaft
Die Richter im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München halten die Angaben von Andreas Temme trotz aller offenen Fragen für glaubhaft. Das gaben sie am 12. Juli 2016 bekannt. Das Gericht bezeichnete Temmes Aussagen als nachvollziehbar und plausibel.
Auf dem rechten Auge blind?
NSU als potentiell gefährlich bekannt
Die Sicht eines Insiders
„Der Verfassungsschutz sollte die Transparenz schaffen, die die Familie Yozgat im Rahmen der Mordermittlung schaffen musste“ – Yozgat-Anwalt Alexander Kienzle über die Erwartungen der Familie an die Aufarbeitung des Falls.
Arbeit im Schneckentempo
Schwierige Aufklärung
Erinnerungslücken, falsche Angaben, Irrtümer…
Kaum neue Einblicke
Erst ein Bruchteil des angeforderten Materials liegt vor
Neues Leitbild für Verfassungsschützer
Gesetzentwurf liegt noch nicht vor
Der SPD-Innenexperte Günter Rudolph kritisiert, die Landesregierung brauche bei den Reformen viel zu lange. Die Sozialdemokraten fordern eine “echte Stärkung der parlamentarischen Kontrolle.“ In anderen Bundesländern sei es gang und gäbe, dass das geheim tagende Parlamentarische Kontrollgremium von sich aus aktiv werde, um dem Verfassungsschutz Fragen zu stellen. In Hessen gehe das nicht. Hier müsse die Opposition immer auf Informationen des Verfassungsschutzes und des Innenministers warten.
SPD-Innenexperte Günter Rudolph fordert eine echte Stärkung der parlamentarischen Kontrolle. „Nicht der Verfassungsschutz und das Innenministerium kontrollieren Abgeordnete, sondern umgekehrt.“
„Anstifter-Rhetorik“ in Flüchtlingsdebatte
Immer schwieriger zu kontrollieren
Terroristische Zellen entstehen oft spontan
Bewaffnung nimmt zu
Ob das NSU-Trio Verbindungen oder gar Unterstützer in der hessischen rechtsextremen Szene hatte, ist bis heute nicht bewiesen. Aber unsere Recherche zu damaligen Aktivisten in Hessen zeigt: Es gibt Indizien. Und sie bestätigt: Auch wenn die Szene sich neu organisiert hat – viele von den altbekannten Neonazis sind auch heute noch aktiv.
Mike S.: Wie altbekannte Neonazis neue Bewegungen unterwandern
Auch Mike S. mischt sich damals unter die Teilnehmer – für Beobachter der Szene kein Unbekannter. Seit Jahren gehört er zu den führenden nordhessischen Neonazis. Als Halit Yozgat im April 2006 in seinem Kasseler Internet-Café erschossen wurde, gehört Mike S. zum „Freien Widerstand Kassel“. Die Polizei hatte ihn mehrfach im Blick. Damals fiel er unter anderem auf, weil er gemeinsam mit anderen Neonazis eine öffentliche Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen störte. Fotos zeigen ihn mit streng gescheiteltem Haar, in seiner Selbstinszenierung erinnert er an einen Vertreter der Hitlerjugend.
Michel F.: Geläuterter „Leitwolf“? – Eine Begegnung
Gefährlich für Andersdenkene
Die „Oidoxie-Streetfighting-Crew“ posiert. Die Gruppe ist eine Art Saalschutz und Security-Dienst der Neonazi-Band „Oidoxie“. Sie gilt als mögliche Schnittstelle zwischen dem NSU und der rechten Szene in Hessen.
Lebensmotto „Hardcore“
„Mir glaubt halt keiner“
Eine Begegnung mit Uwe Mundlos?
Ermittlungen eingestellt
Rockergruppen wie „Bandidos“ und „Hells Angels“ haben keine Berührungsängste gegenüber Neonazis. (Bild: dpa)
Die großen Motorrad-Rockerclubs wie Hells Angels, Bandidos, Gremium oder Outlaws MC geben sich betont unpolitisch und ideologisch ungebunden. Dennoch tummeln sich in einzelnen Chartern und Chaptern (Ortsgruppen) auch bekannte Rechtsextreme – zum Teil sogar in führender Position. Und immer wieder öffnen die Rockerclubs ihre Clubhäuser für Konzerte von Neonazi-Bands. Wie eng sind die Verknüpfungen der beiden Szenen tatsächlich? Und haben Rocker auch im Umfeld des NSU eine Rolle gespielt? Indizien dafür gibt es.
Eine Anzeige der „AD Jail Crew“
Netzwerk mit viel rechtsradikaler Symbolik
Kontakte zum NSU?
Ein Kronzeuge packt aus
Begegnung mit Beate Zschäpe? – „Kein typisches Naziweib“
Rocker und Rechtsextreme: Keine besonderen Berührungsängste
Rockerclubs als Auffangbecken für Rechtsextreme
„Sympathien sind vorhanden“
Eine Hardcore Crew mit „Leitwolf“
Rassenhass zum Mitgrölen
Öffentlicher Ausstieg
Hören Sie hier das ganze Interview von Oliver Günther mit Oliver Podjaski:
„Hessens Rechte auf dem Vormarsch“ – eine Multimedia-Reportage von hr-iNFO.
Redaktion: Christina Sianides
Autorenteam:
Heike Borufka, Nicholas Buschschlüter, Franco Foraci, Oliver Günther, Thomas Kreutzmann, Michael Przibilla, Christina Sianides, Henning Steiner
(unter Mitarbeit von Carsten Meyer und Sandra Müller)
Grafik: Saskia Schmidt
Produktion: Alexandra Müller-Schmieg