10 Jahre NSU-Mord Kassel

Hessens Rechte auf dem Vormarsch


Jetzt durch die Dokumentation scrollen.

6. April 2006. In Kassel wird Halit Yozgat in seinem Internetcafé erschossen. Er ist das neunte Opfer einer Mordserie. Alle bisherigen Opfer haben ausländische – türkische oder griechische – Wurzeln. Erst mehr als fünf Jahre später kommt heraus: Die mutmaßlichen Täter waren Rechtsradikale. Terroristen aus Ostdeutschland, die sich selbst „Nationalsozialistischer Untergrund“ (NSU) nennen. Noch heute gibt es zahlreiche offene Fragen und Ungereimtheiten in dem Fall – auch und gerade zum Mord in Kassel. Noch immer ist nicht geklärt, wieso ein hessischer Verfassungsschützer am Tatort war. Weshalb das Trio so lange unerkannt bleiben konnte. Ob es Unterstützer hatte. Zehn Jahre nach dem Mord in
Kassel brennen in Deutschland wieder Flüchtlingsheime, die Zahl rechter Straftaten steigt, auch in Hessen. Die Behörden warnen vor einem neuen Rechtsterrorismus – einem NSU 2.0. Wir wollten wissen: Wie groß ist die aktuelle Bedrohung wirklich? Haben Politik und Gesellschaft die richtigen Lehren aus dem NSU-Terror gezogen? Wie konnten die Täter so lange unerkannt bleiben? Über Monate haben wir Tausende Seiten vertraulicher Unterlagen ausgewertet, haben uns mit Insidern und mit Aussteigern getroffen, bei Sicherheitsbehörden nachgehakt. Zehn Jahre nach dem NSU-Mord in Kassel dokumentieren wir den Vormarsch der rechten Szene in Hessen und Berührungspunkte zum NSU – damals und heute.

whiteboard

 

Der Fall Halit Yozgat

Was geschah am 6. April 2006?

Ismail Yozgat betritt gegen 17:05 Uhr das Internet-Café, das sein Sohn Halit in der Holländischen Straße in Kassel betreibt. Er will ihm helfen, ihn an der Kasse ablösen, damit der Sohn zum Unterricht in der Abendschule gehen kann. Aber Halit ist nicht zu sehen. Sein Vater wundert sich. Normalerweise, so sagt er später, hätte Halit im Eingangsbereich stehen müssen. Ismail Yozgat schaut sich um. Da entdeckt er seinen Sohn. Halit liegt auf dem Boden, hinter dem Tresen, zusammengesackt und blutend. Zwei Kugeln haben ihn getroffen. Von den Tätern ist nichts mehr zu sehen. Die gerichtsmedizinische Untersuchung ergibt später: Halit Yozgat wurde ermordet, regelrecht hingerichtet, mit gezielten Schüssen in den Kopf. Aus naher Entfernung. Mitten am Tag. Als Ismail Yozgat seinen Sohn findet, lebt er noch. Er stirbt in den Armen seines Vaters. Das Schreien und die Klagen von Ismail Yozgat alarmieren die Gäste des Internet-Cafés. Bis dahin hatten sie sich in Nebenräumen aufgehalten, dort vor Computern gesessen oder telefoniert. Später gibt einer zu Protokoll, er habe ein dumpfes Geräusch gehört. Ein anderer spricht von Knallgeräuschen – “etwa wie ein Luftballon explodiert“. Die Untersuchung der Kugeln in Halits Körper ergeben: Die Mordwaffe ist bekannt.
Es handelt sich um eine Ceska, mit der seit 2000 bereits acht andere Menschen erschossen wurden. Zuletzt Mehmet Kubasik, ein Kioskbetreiber aus Dortmund, nur zwei Tage zuvor. Damit ist klar: Halit Yozgat, der nur 21 Jahre alt wurde, ist das neunte Opfer einer Mordserie. Zu diesem Zeitpunkt gibt sie den Ermittlern noch Rätsel auf. An rechten Terror und die Täter des NSU denkt – offiziell zumindest – niemand. Die Spekulationen gehen eher in Richtung organisierte Kriminalität, sie reichen von Geldwäsche bis Drogenhandel. Weil acht der Opfer eine türkische Abstammung haben, wird die Anschlagsserie in einigen Medien mit dem Begriff “Dönermorde” betitelt. In der Bevölkerung wird hingegen schnell der Verdacht laut, die Täter seien Rechtsextremisten. Eben weil alle der bis dahin getöteten Opfer einen migrantischen Hintergrund hatten – türkisch und griechisch. Sie sollten recht behalten, wie sich fünf Jahre später herausstellt – durch Zufall. Am 4. November 2011 töten sich die beiden Rechtsterroristen Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt nach aktuellem Ermittlungsstand selbst, nachdem die Polizei ihnen nach einem Banküberfall auf der Spur war. In ihrer Wohnung finden die Ermittler die Tatwaffe und ein Bekennervideo.

 

„Er starb in meinen Armen“
Ismail Yozgat spricht als Zeuge im NSU-Prozess. (Bild: dpa) Halits Vater Ismail Yozgat schildert vor Gericht, wie er den Tag erlebte, an dem sein Sohn erschossen wurde.
„Es war einfach unheimlich“

hr-iNFO-Reporter Michael Przibilla war damals vor Ort und hat von der Tat berichtet.


Der Kasseler Fall rückt damals schnell ins bundesweite Rampenlicht – nicht nur, weil es der bis dahin letzte Fall dieser Mordserie ist. Sondern wegen eines heiklen Verdachts: Ein Beamter des hessischen Verfassungsschutzes gerät ins Visier der Ermittler, sie verdächtigen ihn des Mordes an Halit Yozgat. Die Auswertung der Spuren ergibt: Andreas Temme war um den Tatzeitpunkt herum im Internet-Café, meldete sich aber trotz wiederholter Zeugenaufrufe nicht bei der Polizei.
Der Mordverdacht wird wieder fallengelassen – „in dubio pro reo“, da die Ermittler ihm die Tat nicht nachweisen können. Die Rolle von Andreas Temme im Zusammenhang mit dem Kasseler NSU-Mord ist aber nach wie vor ungeklärt. Von den Schüssen will er nichts mitbekommen haben. Ismail Yozgat, der Vater des Ermordeten, zweifelt das an. Er sagt während des Münchener NSU-Prozesses: “Wir wissen alle, dass dieser Mann lügt!“

Mehr bei hessenschau.de: NSU-Mord in Kassel – was wann geschah

Die Rolle des Andreas Temme

Andreas Temme vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags. (Bild: dpa)

Andreas Temme vor dem NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags. (Bild: dpa)

Der Mord in Kassel an Halit Yozgat war die letzte Bluttat an einem Migranten, die den NSU-Terroristen zugeschrieben wird. Und es war der erste Mord dieser Serie, bei dem ein Tatverdächtiger festgenommen wurde: der nordhessische Verfassungsschützer Andreas Temme. Der Beamte war am Tatort; er machte sich verdächtig, weil er seine Anwesenheit direkt nach der Tat weder der Polizei noch seinen Vorgesetzten offenbart hatte. Hat Temme tatsächlich nichts von dem Mord an Halit Yozgat mitbekommen können? Oder darf man ihm seine Version nicht glauben? Das ist eine der großen Fragen des Mordes von Kassel.

Die Rekonstruktion

Was genau hat sich rund um den Mord abgespielt? Die Kasseler Mordkommission „Café“ geht davon aus, dass Halit Yozgat am Donnerstag, 6. April 2006, gegen 17 Uhr ermordet wurde. Für den Zeitpunkt gibt es allerdings nur Indizien, keine direkten Beweise. Denn niemand will die Tat unmittelbar gesehen haben, obwohl sich zur Tatzeit neben Temme und Yozgat fünf Personen im Internetcafé aufhielten.
Eine Frau mit ihrem Kind, zwei 14- und 16-jährige Jugendliche und ein Iraker, der in einer Glaszelle telefonierte. Rekonstruierbar sind die Minuten rund um die Tat über die Anmelde- und Abmeldedaten der PCs im Internetcafé und über Zeugenaussagen bis zum Auffinden des Ermordeten durch seinen Vater Ismail Yozgat.

Ungeklärte 41 Sekunden

16:51 Uhr. Klar ist: Von 16:51 bis 17:01 Uhr war der Verfassungsschützer Andreas Temme am PC-Platz 2 des Internetcafés unter dem Pseudonym „wildman70“ in der Kontaktbörse iLove.de angemeldet. Von seinem Platz hatte er eine eingeschränkte Blickmöglichkeit in den angrenzenden Eingangsraum des Cafés. Dort stand um die Ecke die Ladentheke, hinter der wenige Minuten später Halit Yozgat erschossen werden sollte. Ein jugendlicher Zeuge sagt, er habe Temme mit einer Tüte in der Hand kommen sehen und ein „dumpfes Geräusch“ gehört, nachdem Temme seinen Computerplatz verlassen hatte. Er belastete Temme damit zunächst schwer und trug zu seiner zeitweiligen Untersuchungshaft bei. Der Zeuge galt aber später wegen seines Drogenkonsums als unglaubwürdig.

17:01 Uhr. Um diese Zeit will der Iraker in der Telefonzelle Knallgeräusche vernommen haben. Das könnte der Zeitpunkt des Mordes gewesen sein, so die Kasseler Ermittler. Der Iraker sagte, er habe mit dem Rücken zur Tür gestanden und unbeeindruckt vom Geräusch weiter telefoniert.

Tatortskizze der Polizei, bearbeitet von hr-iNFO

Tatortskizze der Polizei, bearbeitet von hr-iNFO

Etwa 17:02 Uhr. Andreas Temme, der sich um 17:01:40 Uhr ausgeloggt hatte, geht von seinem Computer im Hinterzimmer in den vorderen Eingangsraum des Internetcafés. Er will bei Halit Yozgat bezahlen. An der Ladentheke sei aber niemand gewesen. Temme beteuert seitdem immer wieder, er habe Yozgat nicht gesehen. Er sei kurz vor die Tür gegangen, um draußen nach ihm zu schauen. Danach sei er wieder hinein in den Eingangsraum gegangen und habe, ohne weiter hinzuschauen, wortlos 50 Cent auf die Theke gelegt. Danach sei er gegangen. Das geschah laut Polizei spätestens um 17:02:45 Uhr.

17:02:45 Uhr. Ab jetzt bleiben ungefähr 41 Sekunden ungeklärt, bis um 17:03:26 Uhr. Um diese Zeit beendet der Iraker in der Telefonzelle sein Telefonat und geht in den Ladenraum. Auch er habe zunächst nach Halit Yozgat gesucht, um zu bezahlen. Zu diesem Zeitpunkt muss nach übereinstimmenden Zeugenaussagen die Tat allerdings schon geschehen sein und Halit Yozgat blutend hinter der Ladentheke gelegen haben. Wenn die Version von Verfassungsschützer Temme stimmt, und er das Café verlassen hat, bevor Schüsse fielen, hätten die Täter sehr wenig Zeit für ihren Mord und für die unerkannte Flucht gehabt – eben jene 41 Sekunden zwischen Temmes Verlassen des Cafés und dem Ende des Telefonats des Irakers.

Gegen 17:05 Uhr. Ismail Yozgat findet laut Polizeiprotokoll seinen Sohn blutend hinter der Theke. Der Vater schreit so laut, dass ein 16-jähriger Jordanier aus dem hinteren Computerraum nach vorne stürmt und Erste-Hilfe-Maßnahmen durchführt. Ohne Erfolg. Im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses des Bundestages heißt es: „Das Ermittlungsverfahren konnte nicht klären, ob Andreas Temme den Tatort bereits zum Tatzeitpunkt verlassen hatte oder nicht.“

Noch mehr Rätsel: die Tatortfotos

vlcsnap-2016-03-31-17h14m52s553
vlcsnap-2016-03-31-17h14m29s754
vlcsnap-2016-03-31-17h13m48s981
vlcsnap-2016-03-31-17h14m13s399

Die Tatortfotos wurden in den ersten Tagen nach dem Mord an Halit Yozgat aufgenommen. Sie zeigen den Blick vom Eingangsbereich auf die Ladentheke (oben links). Durch den Durchgang links im Bild geht es in den hinteren Raum des Internetcafés, in dem Andreas Temme saß – auf Platz 2 (zu sehen oben rechts). Die unteren Fotos zeigen Aufnahmen von der Ladentheke – im Falle der Münzen konnte bisher nicht eindeutig geklärt werden, von wem sie stammen und wann sie dorthin gelegt wurden. Fingerabdrücke davon wurden nicht genommen. Unklar bis heute auch: Warum liegen einige Gegenstände auf weiteren Tatortfotos, die etwas später aufgenommen wurden, an anderen Stellen? Eigentlich hätte am Tatort nichts verändert werden dürfen. Diese Frage konnte auch im Untersuchungsausschuss nicht beantwortet werden.

Das Polizeivideo zeigt die Rekonstruktion der Bewegungen Temmes am Tattag. Er hatte sich ausgeloggt und wollte bezahlen, hat Halit Yozgat aber – so seine Aussage – nicht gesehen.

Die Ermittler konnten also nicht eindeutig klären, ob Temme zum Tatzeitpunkt am Tatort war. Für den Journalisten Dirk Laabs, der sich seit Jahren mit dem Fall NSU beschäftigt, ein „völliges Rätsel, wie man noch glauben kann, dass er nicht da war.“ Auch wenn der konkrete Beweis fehlt, hält er die Indizienkette – über Zeugenaussagen und die Telefon- und Internetprotokolle um den Tatzeitpunkt herum – für lückenlos. „Alles andere würde jeder Lebenserfahrung widersprechen“ – so lautet eine Standardformulierung zur Urteilsbegründung in der Rechtssprechung. „Und so ist es hier auch“, ist Laabs überzeugt. Inzwischen geht auch der Senat des Oberlandesgerichts München, wo derzeit der NSU-Prozess stattfindet, davon aus, dass sich Temme zum Zeitpunkt des Mordes noch im Internetcafé befand.

Telefonate mit rechtsextremem V-Mann am Tattag

Ein weiteres großes Fragezeichen im Fall Temmes, das bei Journalisten und Parlamentariern Zweifel an seinen Beteuerungen nährt, zufällig im Internetcafé gewesen zu sein: der Kontakt zu seiner rechtsextremen Quelle Benjamin G.. Der V-Mann hat am Tag der Ermordung Halit Yozgats zweimal mit seinem V-Mann-Führer Temme telefoniert. Die Gespräche führten sie um 13 Uhr und etwa 50 Minuten vor dem Mord, also vermutlich gegen 16:10. Andreas Temme und Benjamin G. haben vor dem Oberlandesgericht in München und vor Untersuchungsausschüssen des Bundes und des Landes Hessen ausgesagt, sie könnten sich an die konkreten Inhalte beider Telefonate nicht mehr erinnern. Kann man oder muss man das glauben? Ist das eine Schutzbehauptung? Dieser Frage ist der NSU-U-Ausschuss im Landtag in Wiesbaden wiederholt nachgegangen. Bislang ohne abschließendes Ergebnis. Fakt ist: Das zweite Telefonat war recht lang; es dauerte nachgewiesene 688 Sekunden, also rund elfeinhalb Minuten. Eine auffällig lange Gesprächsdauer.
Dabei ist aus der parlamentarischen Aufklärung des Kasseler NSU-Mordfalls bekannt, dass V-Mann-Führer und Quellen grundsätzlich nur kurz telefonieren, um Treffpunkte und Uhrzeiten spontan auszumachen. Natürlich kann es in den Telefonaten auch um ganz harmlose Dinge gegangen sein, aber an einem solchen Tag? Eines steht fest: Den Geheimunterlagen zufolge, die hr-iNFO und die Hessenschau einsehen konnten, hatte Temme seinerzeit regelmäßigen Kontakt zu seinen V-Leuten. Er traf sich mit ihnen einmal im Monat, um Informationen abzufragen aus der rechtsextremen Szene Nordhessens. Von V-Mann G. existieren Treffberichte seit September 2002. In einer internen Analyse des Bundeskriminalamtes ist zu lesen, dass es 2006 mutmaßlich vier Treffen – laut Temmes sichergestelltem Kalender – mit Benjamin G. gegeben hat. Auffallend sei, heißt es in der BKA-Analyse, dass für diese Treffen in dem Mordjahr keine Berichte vorlägen. Nach Aktenlage war das letzte Treffen mit Benjamin G. am 10.4.2006, also vier Tagen nach dem Mord an Halit Yozgat.
 

Richter halten Temmes Aussage für glaubhaft

Die Richter im NSU-Prozess am Oberlandesgericht München halten die Angaben von Andreas Temme trotz aller offenen Fragen für glaubhaft. Das gaben sie am 12. Juli 2016 bekannt. Das Gericht bezeichnete Temmes Aussagen als nachvollziehbar und plausibel.

Die Ermittlungen

Mai 2006. Durch die Kasseler Nordstadt zieht ein Schweigemarsch. Knapp 2000 Menschen trauern um Halit Yozgat. „Kein zehntes Opfer“ ist auf Transparenten zu lesen. Verzweifelt fordert die Familie von Halit Yozgat, die Mordserie müsse endlich gestoppt werden. Doch während die Bevölkerung schon lange von einem rechtsextremistischen Hintergrund ausgeht, fliegt der NSU erst im November 2011 auf. Bis dahin wird die These der „rechtsextremistischen Täter“ fast keine Rolle mehr spielen. Geht es um Extremismus, ist allenfalls von den türkischen „Grauen Wölfen“ die Rede.

Auf dem rechten Auge blind?


Wie viele andere in der Stadt glaubte auch Kassels Vorsitzender des Ausländerbeirats Kamil Saygin von Anfang an an rechtsextremistische Täter. Im Video erklärt er, warum.

Waren die Ermittler auf dem rechten Auge blind? Ist das Versagen der Behörden in einem latenten „Rassismus“ begründet? Noch schlimmer: Wurden die Taten des NSU gedeckt? Endgültige Klarheit herrscht bis heute nicht. Die bisherigen Erkenntnisse im Fall Yozgat weisen aber darauf hin, dass vor allem mangelnde Kooperation und unterschiedliche Behördeninteressen schuld daran waren, dass die Täter nicht gestoppt wurden. Denn Hinweise, Puzzlestücke, gab es. Rechtsradikalismus habe sehr wohl als Motiv eine Rolle gespielt, so die Aussage von Kasseler Ermittlungsbeamten vor dem NSU-Untersuchungsausschuss in Wiesbaden. Tatsächlich waren die Ermittler nach dem Mord an Yozgat kurzzeitig auf der richtigen Spur: Eine sogenannte „Profiler-Analyse“ vermutete als Täter zwei junge Männer, die Türken hassen und die ein „ausländerfeindliches Zerstörungsmotiv“ antreibe. Doch die Ermittler sahen nach eigenen Angaben keinerlei Hinweise auf rechtsmotivierte Straftaten, typische Indizien wie etwa ein Bekennerschreiben gab es nicht. Die Analyse des Profilers wurde als „unrealistisch“ verworfen. Ein fataler Irrtum.

NSU als potentiell gefährlich bekannt

Fahndungsplakat aus dem Jahr 2014. (Foto: Arno Burgi/dpa)

Fahndungsplakat aus dem Jahr 2013. (Foto: Arno Burgi/dpa)

Was den Kriminalisten fehlte, hätte möglicherweise der Verfassungsschutz beisteuern können: Wissen über existierende rechtsextremistische Zellen, ihre gewaltbereite Ideologie, ihre terroristischen Strategien. Tatsächlich war das NSU-Trio – Zschäpe, Mundlos, Böhnhardt – zumindest Teilen der Verfassungsschutzbehörden sehr wohl als potentiell gefährlich bekannt. Es gab eine Akte zum NSU beim Bundesamt für Verfassungsschutz, V-Leute hatten zahlreiche Hinweise auf die im Untergrund agierende Gruppe geliefert. Allerdings: Schon im hessischen Landesamt für Verfassungsschutz kam laut Aussagen im Wiesbadener Untersuchungs-Ausschuss diese Information nie an. Knapp zwei Wochen vor den tödlichen Schüssen in Kassel baten BKA-Ermittler den hessischen Verfassungsschutz auf dem „kleinen Dienstweg“ um Amtshilfe. Die Kollegen sollten sich wegen der geheimnisvollen Serie bei ihren V-Leuten umhören. Die Umsetzung erfolgte eher halbherzig: eine Rundmail, keine Nachfragen, keine Dokumentation der Antworten. Heraus kam nichts. Informationen über das NSU-Trio hier, Hinweise und Ermittlungen in Richtung rechte Szene dort – es blieben lose Teile, deren Zusammensetzung scheiterte.

Der Fall Yozgat wirbelte schließlich noch einmal alles gehörig durcheinander. Ein hessischer Verfassungsschützer um den Mordzeitpunkt am Tatort, schlimmer noch – unter Tatverdacht. Die Folge: Hektische Betriebsamkeit, Überprüfungen, disziplinarische Maßnahmen und vor allem Schadensbegrenzung. Beim Verfassungsschutz wie auch in der hessischen Politik. Das Verhältnis zwischen Mordermittlern und Verfassungsschutz wurde zunehmend gespannter. Die einen wollten den Mord an Yozgat aufklären, die anderen vor allem geheime Operationen und Personen schützen.
Ausgerechnet in einer Situation, in der man die Expertise des Verfassungsschutzes benötigt hätte, um auf den politischen Hintergrund der Kasseler Terrortat kommen zu können, war zumindest der hessische Verfassungsschutz mit sich selbst beschäftigt. In Sachen Aufklärung ein Totalausfall. Im April 2007 erschoss der NSU in Heilbronn die Polizistin Michèle Kiesewetter. Die Hoffnung von Kassel, es möge kein zehntes Opfer geben, erfüllte sich nicht.

Die Sicht eines Insiders


Winfried Ridder war Verfassungsschützer. 22 Jahre lang, bis 1995, war er beim Bundesamt für Verfassungsschutz, Schwerpunkt Terrorismusbekämpfung. Als einer der wenigen gibt er Einblick hinter die Kulissen des Geheimdienstes – und spricht von einem Selbstverständnis der Behörde, das zum Versagen im Fall NSU beigetragen habe.

Politische Aufarbeitung: der Untersuchungsausschuss

Acht Jahre nach dem Mord an Halit Yozgat, im Mai 2014, setzt das Land Hessen einen Untersuchungsausschuss zur Aufklärung des Falls ein. Denn obwohl seit 2011 bekannt war, dass die Tat vermutlich auf das Konto des NSU geht, blieben viele Fragen offen: Hatte der NSU Unterstützer vor Ort, was suchte ein hessischer Verfassungsschützer am Tatort und wieso liefen die Ermittlungen so daneben?

„Der Verfassungsschutz sollte die Transparenz schaffen, die die Familie Yozgat im Rahmen der Mordermittlung schaffen musste“ – Yozgat-Anwalt Alexander Kienzle über die Erwartungen der Familie an die Aufarbeitung des Falls.

Die Arbeit des Ausschusses steht jedoch von Anfang an unter keinem guten Stern. Schon vor seiner Einsetzung streiten die Parteien darüber, ob es überhaupt eines solchen Gremiums bedarf. Die Regierungskoalition aus CDU und Grünen, damals erst wenige Monate im Amt, lehnt es rundherum ab. Begründung: Der Bundestag habe die NSU-Mordserie schon untersucht, deshalb erwarte man sich von einer Betrachtung im Landtag keine maßgeblichen zusätzlichen Erkenntnisse. Sie empfehlen die Einsetzung einer Expertenkommission, die Vorschläge zur Reform der hessischen Sicherheitsbehörden erarbeiten sollte. SPD und Linke drängen jedoch auf weitere Aufklärung. Mit ihren Stimmen wird die Einsetzung des Ausschusses dann auch beschlossen. CDU, Grüne und FDP enthalten sich bei der Abstimmung.

Arbeit im Schneckentempo


FDP-Abgeordneter und Untersuchungsausschuss-Mitglied René Rock zeigt im Landtag einen geschwärzten Antragstext, um zu zeigen, wie die NSU-Akten teilweise aussehen.

Untersuchungsausschuss-Mitglied René Rock (FDP) zeigt im Landtag einen geschwärzten Antragstext, um zu zeigen, wie die NSU-Akten teilweise aussehen.

Kaum überraschend, dass die Arbeit in dem Gremium von Beginn an schleppend verläuft. Die Bilanz ist ernüchternd: Nach mehr als 30 Sitzungen und über 50 gehörten Zeugen sind die Abgeordneten nicht grundsätzlich schlauer, neue Erkenntnisse zum NSU-Komplex hat der Ausschuss nicht geliefert. Umso deutlicher ist hingegen geworden, warum die Aufklärung der rechten Terrorserie so schwierig ist.

Schwierige Aufklärung


Da gab es beispielsweise die Nachricht, dass es kurz vor dem Mord an Halit Yozgat in Kassel ein Rechtsrock-Konzert der Band „Oidoxie“ – nur wenige Kilometer vom Tatort entfernt – gegeben habe. Das ließ die Mitglieder des Untersuchungsausschusses aufhorchen. Vor diesem Konzert gäbe es auch eine DVD, die die Polizei sichergestellt habe. Eine brisante Information, gab es doch schon wiederholt Gerüchte, genau auf diesem Konzert seien auch Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt gesichtet worden. Kann die DVD über den mutmaßlichen Konzertbesuch der NSU-Terroristen wenige Tage vor dem Mord an Halit Yozgat Aufschluss geben? Wenige Tage später dann die Auflösung. Ja, es gebe den Mitschnitt eines „Oidoxie“-Konzerts, bestätigten die Ermittlungsbehörden auf Anfrage von hr-iNFO. Die DVD zeige aber kein Konzert in Kassel, sondern im nordrheinwestfälischen Greven. Damit war die vermeintliche wichtige Aufzeichnung für den hessischen NSU-Untersuchungsausschuss wertlos. Vor wenigen Wochen dann ein ähnlicher Fall.
Diesmal sorgte ein Zeuge für Aufsehen, der zum Zeitpunkt des Mordes an Yozgat zur militanten rechten Szene in Kassel gehörte und gleichzeitig V-Mann des Verfassungsschutzes war. Vor dem Untersuchungs-Ausschuss in Wiesbaden widersprach Benjamin G. – ehemaliger Deckname „Gemüse“ – bisher bekannt gewordenen Erkenntnissen des Verfassungsschutzes. Noch schlimmer: Die Aussage des Mannes ließ Spekulationen aufkommen, Berichte des Verfassungsschutzes seien gefälscht. Und zwar ausgerechnet von jenem Mitarbeiter des Amtes, der ohnehin schon eine zentrale Rolle rund um den Mord an Halit Yozgat spielt: Andreas Temme. Er war nämlich rund um die tödlichen Schüsse am Tatort. Prompt bekam ein seit langem immer wieder gehegter Verdacht neue Nahrung. Wusste der hessische Verfassungsschutz doch mehr über den Mord an Yozgat als bislang bekannt? Nach weiteren Recherchen von hr-iNFO hieß es dann: Entwarnung. Der Zeuge hatte vor dem Ausschuss offensichtlich die Unwahrheit gesagt. Absicht? Erinnerungslücke? Das blieb offen.

Erinnerungslücken, falsche Angaben, Irrtümer…


Die beiden Beispiele zeigen allerdings: Die Aufarbeitung des NSU-Komplexes ist ausgesprochen schwierig. Immer wieder werfen vermeintlich neue Informationen neue Fragen auf, die sich bei näherem Hinschauen wie eine Fata Morgana in Luft auflösen. Dazu kommen Erinnerungslücken, falsche Angaben, Irrtümer. Und Nebenpfade, die immer wieder für Aufsehen sorgen, aber bei genauem Hinschauen mit dem eigentlichen Thema, der NSU-Mordserie und der Tat in Kassel, nichts zu tun haben. Wie die im vergangenen Sommer bekannt gewordenen vermeintlichen Kontakte zwei Kasseler Polizisten Anfang der 2000er Jahre zum rechten Netzwerk „Blood & Honour“, zu dem auch Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe gerechnet werden. Prompt tauchte die Frage auf: Wussten die beiden Polizisten am Ende etwas über den NSU?
Ein Jahr später sind die Berührungspunkte der beiden Beamten ins „Blood & Honour“-Umfeld zwar noch nicht endgültig geklärt. Aber mit dem NSU hat das Ganze wohl nichts zu tun. Umso größer die Aufregung im hessischen Untersuchungsausschuss: Weil die brisanten Kontakte der beiden hessischen Polizisten in der Presse veröffentlicht worden waren, ermittelt die Staatsanwaltschaft Wiesbaden bis heute wegen Geheimnisverrats. Infolgedessen ist der Ausschuss im Umgang mit sensiblen Informationen noch zurückhaltender geworden, als er es schon vorher war. Zur Aufklärung in Sachen des NSU-Mordes in Kassel 2006 haben der Wirbel um die beiden Polizisten und die Ermittlungen nicht beigetragen.

Kaum neue Einblicke


Das Beispiel des hessischen Untersuchungsausschusses steht allerdings nur für ein grundsätzliches Dilemma bei der Aufklärung des NSU-Komplexes. Fast fünf Jahre nach dem Auffliegen des rechten Terror-Trios gibt es einerseits zwar eine schier unüberschaubare Fülle an Materialien, Dokumenten, Unterlagen und Berichten. Auf der anderen Seite sind immer noch viele Fragen ungeklärt. Vor allem in Hinblick auf die Unterstützerszene rund um den NSU ist noch vieles unbekannt. Die Verfasstheit der rechten Szene rund um die NSU-Terrorserie – auch in Hessen – birgt noch viele Rätsel. Wer recherchiert, stößt auf immer neue Namen und Verbindungen und läuft schnell Gefahr, die zentralen Fragen aus dem Blick zu verlieren. Handelte der NSU auf eigene Faust? Gab es Mittäter an den einzelnen Tatorten? Zumal Insider, vor allem aktive oder ehemalige Angehörige der militanten rechten Szene, wenig mitteilsam sind und aus ihrer Unlust, an der
Aufklärung mitzuwirken, oft keinen Hehl machen. Der hessische Untersuchungsausschuss hat gerade hier Neuland betreten: Zum ersten Mal im Rahmen der politischen Aufarbeitung wurden in Deutschland Mitglieder der rechten Szene bzw. Aussteiger als Zeugen befragt. Neue Einblick sind aber die Seltenheit. Erinnerungslücken, falsche Angaben, Widersprüche, mitunter auch spürbarer Unwille eher die Regel. Dazu kommt, dass auch die Sicherheitsbehörden, allen voran die Verfassungsschutzämter, ihre Informationen nur bedingt preisgeben. Der Schutz geheimer Informationen und vertraulicher Quellen steht immer noch in Konkurrenz zum Anspruch möglichst großer Transparenz vor allem in den Untersuchungsausschüssen der Parlamente. Dabei verwahrt sich das Landesamt für Verfassungsschutz in Hessen ausdrücklich gegen den Vorwurf, Unterlagen gezielt zurückzuhalten.

Erst ein Bruchteil des angeforderten Materials liegt vor


Tatsächlich gäbe es für die Herausgabe geheimdienstlicher Informationen strenge Vorgaben. So dürften zum Beispiel keine Informationen weitergegeben werden, die die Arbeit eines anderen Landesamtes für Verfassungsschutz oder des Bundesamtes für Verfassungsschutz betreffen. Jede Akte müsse deshalb aufwendig geprüft, jede kritische Stelle geschwärzt werden. Im Landesamt in Wiesbaden wurde dafür ein Extra-Raum eingerichtet,
in dem rund 15 Personen kontinuierlich mit der Aufarbeitung der Akten für den hessischen Untersuchungsausschuss beschäftigt sind. Allein für den hessischen Ausschuss wird damit gerechnet, dass ca. 3.500 Akten mit etwa einer Million Blättern Papier gesichtet, bewertet und aufbereitet werden müssen. Geschätzte Dauer dafür sind etwa 18 Monate. Die Folge: Bislang liegt dem Ausschuss noch nicht mal die Hälfte des angeforderten Materials vor – und das betrifft nur die hessischen Behördenunterlagen.

Die Konsequenzen aus dem NSU-Skandal

Sechs Jahre lang mordete der NSU in ganz Deutschland, ohne dass die Behörden ihm auf die Spur kamen. Elf Jahre nach dem ersten Mord kommt schließlich durch Zufall heraus: die Morde gehen auf das Konto von Rechtsterroristen. Die Aufarbeitung des Falls zeigt, dass es an vielen Stellen hakte. Mangelnde Kooperation, unterschiedliche Interessen, falsche Strategien. Welche Konsequenzen zog man seitens des Verfassungsschutzes, der Polizei und der Politik in Hessen aus dem NSU-Skandal, um derlei Pannen in Zukunft zu vermeiden? Das hessische Landesamt für Verfassungsschutz (LfV) legt Wert darauf, sich schon vor Bekanntwerden der NSU-Mordserie neu aufgestellt zu haben.
2008 wurde das sogenannte Kompetenzzentrum Rechtsextremismus (Korex) ins Leben gerufen, außerdem gab es mehr Personal und neu zugeschnittene Aufgabenbereiche. Seitdem klar ist, dass der NSU jahrelang unentdeckt morden konnte, ist der Reformdruck auf die Sicherheitsbehörden jedoch noch einmal mächtig gestiegen. Alleine der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages legte vor drei Jahren 47 Handlungsempfehlungen vor, damit sich die Fehlgriffe und Pannen von Polizei und Verfassungsschutz möglichst nicht wiederholen. Wichtigste Forderungen: eine engere Kooperation der Sicherheitsbehörden in Bund und Ländern und mehr Präventionsarbeit, um ein Abdriften Jugendlicher in die rechtsextreme Szene zu verhindern.

Neues Leitbild für Verfassungsschützer


Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU, l) und Robert Schäfer, Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz, mit dem Verfassungsschutzbericht 2014. (Bild: dpa)

Hessens Innenminister Peter Beuth (CDU, l) und Verfassungsschutzpräsident Robert Schäfer mit dem Verfassungsschutzbericht 2014. (Bild: dpa)

Im Oktober 2014 stellt der hessische Innenminister Peter Beuth (CDU) zwei Gesetzentwürfe zur Neuausrichtung des Verfassungsschutzes vor. Die Beamten sollen ein neues Leitbild bekommen, das auch die gesellschaftliche Vielfalt berücksichtige, sagt er. Vertrauen schaffen durch Transparenz sei das Ziel. Weitere Reformvorhaben: für Informanten des Verfassungsschutzes, die sogenannten V-Leute, sollen in Zukunft klare Kriterien gelten. Sie sollen persönlich und charakterlich für die Zusammenarbeit mit dem Geheimdienst geeignet sein und bei der Erfüllung ihres Auftrags keine Straftaten begehen. Ähnliches hatte schon Beuths Vorgänger im Amt, Boris Rhein, ein paar Jahre zuvor versprochen. Außerdem werde die parlamentarische Kontrolle des Verfassungsschutzes verbessert, kündigt Beuth an.

Gesetzentwurf liegt noch nicht vor


Ein Jahr später, im Oktober 2015, stellt eine von der Landesregierung eingesetzte Expertenkommission ihre Bewertung der Gesetzentwürfe vor. Ihr Urteil fällt zwiespältig aus. Die vier Experten, darunter Juristen und ehemalige Politiker, loben einerseits die neue Arbeits- und Fehlerkultur beim LfV und den besseren Informationsaustausch zwischen den Sicherheitsdiensten. Nachbesserungsbedarf gebe es aber beim Trennungsprinzip zwischen Polizei und Verfassungsschutz, sagt Professor Hans-Joachim Jentsch, ehemaliger Verfassungsrichter und Vorsitzender der Expertenkommission. Die beiden Dienste dürften auch nicht alle Informationen miteinander austauschen. Der neue Gesetzentwurf soll laut Innenminister Beuth noch in diesem Jahr vorgelegt werden. Die FDP im Landtag fordert inzwischen eine parteiübergreifende Initiative zur Reform des Verfassungsschutzes. Bei CDU und Grünen stößt das auf wenig Gegenliebe.

Der SPD-Innenexperte Günter Rudolph kritisiert, die Landesregierung brauche bei den Reformen viel zu lange. Die Sozialdemokraten fordern eine “echte Stärkung der parlamentarischen Kontrolle.“ In anderen Bundesländern sei es gang und gäbe, dass das geheim tagende Parlamentarische Kontrollgremium von sich aus aktiv werde, um dem Verfassungsschutz Fragen zu stellen. In Hessen gehe das nicht. Hier müsse die Opposition immer auf Informationen des Verfassungsschutzes und des Innenministers warten.

SPD-Innenexperte Günter Rudolph fordert eine echte Stärkung der parlamentarischen Kontrolle. „Nicht der Verfassungsschutz und das Innenministerium kontrollieren Abgeordnete, sondern umgekehrt.“

 

Die rechte Szene in Hessen

Auf dem Vormarsch: Die aktuelle Szene

Angefangen hat es mit Hakenkreuzschmierereien und Hetzsprüchen gegen Flüchtlinge an der Scheibe, unterschrieben mit dem Kürzel „Cd18“. Christine Buchholz, Bundestags-Abgeordnete der Partei Die Linke, hat die Attacken auf das Wahlkreisbüro der Partei in Offenbach genau dokumentiert. Es folgten Steine im Schaufenster, Hundekot im Briefkasten. Die Täter sind bis heute unbekannt. Auch zu einer Gruppierung namens „Cd18“ haben die hessischen Sicherheitsbehörden keine Erkenntnisse.
Vorfälle wie diese: längst kein Einzelfall mehr. Laut Zahlen des Hessischen Innenministeriums hat die Zahl rechtsextremistischer Straftaten auch in Hessen im vergangenen Jahr zugenommen. So gab es demnach 707 rechtsextremistisch motivierte Straftaten. Darunter fallen neben fremdenfeindlichen Angriffen, zum Beispiel auf Flüchtlinge oder Flüchtlingsunterkünfte, vor allem „Propagandadelikte“. Im Jahr 2014 waren es noch 584.
Neonazi Bernd Tödter posiert vor einem Porträt Adolf Hitlers.

Der Neonazi Bernd Tödter ist mehrfach vorbestraft, u.a. wegen gefährlicher Körperverletzung. Bild: privat

Die wohl spektakulärste Tat: In Kassel wurde ein 46-jähriger Mann eine Woche lang gefangen gehalten und misshandelt. Verantwortlich für die Tat soll der mehrfach vorbestrafte Bernd Tödter sein, der mit dem von ihm geführten Verein „Sturm 18“ schon wiederholt für Schlagzeilen gesorgt hat. Inzwischen ist der Verein verboten, Tödter wurde zu einer Haftstrafe verurteilt – wegen Nötigung und Anstiftung zur Körperverletzung und Freiheitsberaubung. Tödter taucht auch schon in den Ermittlungsunterlagen zum NSU auf. Kurz nach der Festnahme hatte er behauptet, er habe Informationen über Verbindungen des NSU nach Kassel, wo Halit Yozgat im April 2006 getötet worden war. Als Zeuge im Münchener NSU-Prozess will Tödter dann davon plötzlich nichts mehr gewusst haben, er habe sich das alles nur ausgedacht.

„Anstifter-Rhetorik“ in Flüchtlingsdebatte

Bis heute fällt der Einblick in die Strukturen der militanten rechtsextremistischen Szene ausgesprochen schwer. Die, die damals zum Beispiel in Kassel zur Szene gehört haben, können – oder wollen – sich nicht erinnern. Zentrale Figuren nehmen für sich in Anspruch, ausgestiegen zu sein. Gleichwohl pflegen sie die alten Verbindungen und Netzwerke. Aber auch neue Plattformen wie Pegida und ihre Ableger in Hessen ziehen Neonazis an, die den Behörden seit vielen Jahren bekannt sind. Fakt ist: Die Neonazi-Szene ist auch in Hessen derzeit wieder in Aufbruchsstimmung. Lange war es – trotz des NSU-Mordes in Kassel – um das Stichwort Rechtsextremismus eher ruhig. Das hat sich vor allem seit dem vergangenen Jahr geändert.
Ursache ist die sehr emotional geführte Debatte um den Umgang mit Flüchtlingen. Für den Kasseler Rechtsextremismus-Experten Helge von Horn steht fest: Die Szene ist gerade im Aufwind. „Die rechtsextremistische Szene war in Hessen mit ihren Themen nicht angesagt. Das ändert sich jetzt.“ Das zeigt sich zunächst auf der Ebene der Parteien. Neben der NPD haben die Sicherheitsbehörden hier vor allem die noch junge Partei Der Dritte Weg im Visier. Sie setzt vor allem auf aggressive Propaganda-Aktionen gegen Flüchtlinge. In Sicherheitskreisen ist von einer „Anstifter-Rhetorik“ die Rede, die ein „hohes Eskalationspotential“ besitze. Dass dem Dritten Weg in Hessen derzeit keine zwanzig Personen zugerechnet werden, schmälert diese Einschätzung nicht.
 

Immer schwieriger zu kontrollieren

Der Schritt weg von der verbalen Hetze zur tatsächlichen Gewalt drohe immer kürzer zu werden – so die Befürchtung. Dazu kommt, dass die Szene außerhalb der Parteien immer schwieriger zu kontrollieren ist. War die Neonazi-Szene zu Zeiten der NSU-Mordserie noch geprägt von vereinsartigen Strukturen und
Verbindungen wie dem internationalen Netzwerk „Blood and Honour“ oder regionalen Gruppierungen wie den „Freien Kräften Schwalm-Eder“, sorgen insbesondere die sozialen Netzwerke für eine höhere Mobilität und Flexibilität.
Philip Tschentscher bei einem Aufmarsch in Bad Nenndorf.

Philip Tschentscher bei einem NPD-Aufmarsch 2012 in Bad Nenndorf. Bild: C. Ritter

Und so lassen sich auch regionale Schwerpunkte immer wieder nur punktuell festmachen. Doch auch wenn die Szene sich neu organisiert – die alten Netzwerke sind längst nicht zerschlagen oder ohne Bedeutung, warnt Rechtsextremismus-Experte von Horn. „Man ist aus der Öffentlichkeit verschwunden, man macht keine Veranstaltungen mehr. Aber die Netzwerke von einst tragen noch, sie haben sich nur weitgehend in den Untergrund zurückgezogen.“ Ein Beispiel dafür ist Philip Tschentscher, in der Szene auch als Musiker unter dem Namen „Reichstrunkenbold“ bekannt. Er wuchs in Hofgeismar auf und fiel schon als Jugendlicher durch sein neonazistisches Auftreten auf. Bekannt wurde Tschentscher, als er im Jahr 2014 in Österreich zu einer dreijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz und nationalsozialistischer Umtriebe. 2015 wurde Tschentscher vorzeitig aus der Haft entlassen. Inzwischen gibt es Hinweise, dass der Neonazi-Liedermacher wieder in Hessen lebt und Konzerte gibt. Tschentscher soll nach Aussagen aus Sicherheitskreisen auf jeden Fall wieder „eine Rolle spielen“.

Terroristische Zellen entstehen oft spontan

Gerade angesichts solcher Strukturen mahnen Experten wie der Journalist Dirk Laabs an: Die Hintergründe des NSU-Komplexes und das Umfeld der Täter müssten noch weiter ausgeleuchtet werden. Laabs hat sich sehr intensiv mit dem NSU beschäftigt und gemeinsam mit Stefan Aust das wohl wichtigste Buch („Heimatschutz“) zum rechten Terror-Trio Mundlos, Böhnhardt und Zschäpe geschrieben. „Die Beschäftigung mit dem NSU hilft, die heutige Bedrohung besser zu verstehen“, sagt er im Interview mit hr-iNFO. Die Auseinandersetzung mit dem NSU verdeutlicht auch einen weiteren Faktor, der den Kampf gegen rechte Gewalt erschwert: die Spontaneität der Handlungen.
Die rechte Szene funktioniere sehr komplex, so Laabs. Zellen, die Ausgangspunkt für terroristische Taten sein könnten, entstünden häufig spontan. Es gehe dann bei Terror-Taten gar nicht um die große Strategie, sondern darum, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren – nicht zuletzt auch als Signal in die eigene Szene. Beim NSU habe gerade das eine entscheidende Rolle gespielt. Und obwohl Laabs im Fall NSU mit den Sicherheitsbehörden hart ins Gericht geht, räumt er durchaus ein: Der Faktor Spontaneität mache Polizei und Verfassungsschützern den Kampf gegen rechte Gewalt und rechten Terror schwer.
Kevin S. im Dezember 2008 beim Prozess um den Zeltlager-Überfall vor dem Landgericht Kassel. Bild: Christine Reinckens/HNA/dpa/lhe

Kevin S. im Dezember 2008 beim Prozess um den Zeltlager-Überfall vor dem Landgericht Kassel.
Bild: Christine Reinckens/HNA/dpa/lhe

Tatsächlich bestätigt auch der genauere Blick auf rechte Gewalttaten in Hessen diese Einschätzung: Im Sommer 2008 überfallen Mitglieder der „Freien Kräfte Schwalm-Eder“ ein Zeltlager der Linksjugend. Mit dabei: Kevin S., der mit einem Spaten ein 13-jähriges Mädchen lebensgefährlich verletzt. Kevin S. ist seinerzeit Führungspersönlichkeit der militanten hessischen Neonazi-Szene, hat Kontakt zu Rechtsextremisten, die sich heute im Rahmen des NSU-Prozesses in München wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verantworten müssen. Er wird nach dem Überfall zu einer Haftstrafe verurteilt. Lange hat er sich zu seiner Tat öffentlich nicht geäußert. Im März 2016 hat er sein Schweigen gebrochen. In einem Interview mit dem hr-Fernsehen hat er nicht nur beteuert, dass er aus der rechten Szene ausgestiegen sei. Er schilderte auch noch einmal ausführlich die Ereignisse rund um die Tat. Der Überfall sei nicht geplant gewesen, vielmehr habe es sich um eine spontane Aktion gehandelt – am Ende einer langen Nacht, in der viel Alkohol geflossen sei. Es folgte eine Spirale der Gewalt: Erst demolierten die Täter Autos, danach verübten sie den brutalen Überfall auf die Teilnehmer des Camps.

Bewaffnung nimmt zu

Spontaneität, die Verlagerung in den Untergrund, eine erhöhte Mobilität und Flexibilität durch Vernetzung in sozialen Medien – das alles macht die rechtsextreme Szene immer unberechenbarer und schwerer zu kontrollieren. Und damit auch gefährlicher. Es erschwert gleichzeitig auch eine Einschätzung darüber, wie groß die aktuelle Bedrohung konkret ist. Selbst Kenner des militanten rechten Milieus wagen hier keine Prognose. Fakt ist jedoch: Die Straftaten nehmen zu. Ein weiteres Alarmsignal, das die Sicherheitsbehörden umtreibt: die Verbreitung von Waffen in der Szene.
Erst im Januar gab die Landesregierung auf eine Anfrage der SPD bekannt, dass immer mehr Mitglieder der rechten Szene im Besitz von Waffen sind. Demnach befinden sich derzeit rund 90 Schusswaffen in den Händen bekannter Rechtsradikaler. Zum Vergleich: Im Jahr 2012 waren in der Szene gerade mal zwölf Waffen registriert. Umso wichtiger bleibt die weitere Aufarbeitung des Falls NSU. Denn je mehr man darüber weiß, wie die Szene funktioniert, desto besser kann man der aktuellen Bedrohung begegnen.

Verbindungen der Szene zum NSU?

Ob das NSU-Trio Verbindungen oder gar Unterstützer in der hessischen rechtsextremen Szene hatte, ist bis heute nicht bewiesen. Aber unsere Recherche zu damaligen Aktivisten in Hessen zeigt: Es gibt Indizien. Und sie bestätigt: Auch wenn die Szene sich neu organisiert hat – viele von den altbekannten Neonazis sind auch heute noch aktiv.

Mike S.: Wie altbekannte Neonazis neue Bewegungen unterwandern

Der Kasseler Neonazi Mike S.

Der Kasseler Neonazi Mike S. (Bild: Apabiz e.V.)

Anfang 2015 lief Kagida („Kassel gegen die Islamisierung des Abendlandes“) zu seiner bisherigen Hochform auf. Jeden Montag versammelten sich bis zu 250 Unterstützer des nordhessischen Ablegers der islam- und ausländerfeindlichen Pegida-Bewegung zu Kundgebungen in der Kasseler Innenstadt, begleitet von Gegendemos und einem Großaufgebot der Polizei. Schnell stand Kagida im Ruf, nicht nur besorgte Bürger, sondern auch Rechtsextremisten anzuziehen.

Auch Mike S. mischt sich damals unter die Teilnehmer – für Beobachter der Szene kein Unbekannter. Seit Jahren gehört er zu den führenden nordhessischen Neonazis. Als Halit Yozgat im April 2006 in seinem Kasseler Internet-Café erschossen wurde, gehört Mike S. zum „Freien Widerstand Kassel“. Die Polizei hatte ihn mehrfach im Blick. Damals fiel er unter anderem auf, weil er gemeinsam mit anderen Neonazis eine öffentliche Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen störte. Fotos zeigen ihn mit streng gescheiteltem Haar, in seiner Selbstinszenierung erinnert er an einen Vertreter der Hitlerjugend.

Mike S. beteiligt sich zu der Zeit auch an Wahlkampfständen der NPD, zeitweilig war er sogar stellvertretender Landesvorsitzender der NPD-Jugendorganisation Junge Nationaldemokraten (JN). Auch bei rechtsextremen Montagskundgebungen in der Kasseler Innenstadt rund um Vertreter der sogenannten Reichsbürger wird er gesehen – sie kopieren das Schema der Hartz IV-kritischen, bundesweiten Montagsdemos für ihre Zwecke. Bis 2011 beteiligt sich Mike S. regelmäßig an bundesweiten Neonazi-Aufmärschen, unter anderem in Halle, Gießen und Bad Nenndorf. Danach wird es stiller um ihn – bis zu den Kagida-Kundgebungen 2015.
Das Beispiel Mike S. zeigt, wie altbekannte Neonazis versuchen, neue Bewegungen für sich zu nutzen und zu unterwandern. Er hat enge Kontakte zu anderen Vertretern der nordhessischen Neonazi-Szene, die im Zusammenhang mit dem NSU-Komplex eine Rolle spielen.
So zum Beispiel zu Benjamin G., der sich als V-Mann anwerben ließ und an Verfassungsschützer Andreas Temme berichtete. Oder zu Michel F., der ausgesagt hat, er habe den mutmaßlichen NSU-Terroristen Uwe Mundlos 2006 bei einem Neonazi-Konzert in Kassel gesehen – kurz vor dem Mord an Halit Yozgat.
 

Michel F.: Geläuterter „Leitwolf“? – Eine Begegnung

Michel F. war gerade mal 14 Jahre alt, als er erste Kontakte in die rechtsextreme Szene knüpfte. F. war unter anderem Hooligan, Mitglied der Neonazi-Kameradschaft „Sturm 18“ und Mitglied der „Oidoxie Streetfighting Crew“, einer Art Security der Neonazi-Band „Oidoxie“.

Im Februar wurde Michel F. im hessischen NSU-Untersuchungsausschuss des Landtags befragt – vor allem, weil F. 2012 in einem Verhör ausgesagt hatte, mindestens ein Mitglied des NSU in Kassel gesehen zu haben, und das kurz vor dem Mord an Halit Yozgat. Bis heute – zehn Jahre nach diesem Mord – rechnen die Behörden Michel F. dem Neonazi-Milieu zu. Er dagegen beteuert im exklusiven Interview mit hr-iNFO und der Hessenschau seinen Ausstieg.
Davon, dass Michel F. zu den umtriebigsten Charakteren der rechtsextremen und Neonazi-Szene in Kassel gehörte, zeugen seine zahlreichen Tattoos. „Sturm 18“ hat er sich etwa in großen Lettern unterhalb der Brust stechen lassen. Links darüber: Das Bild eines Soldaten mit Gewehr im Anschlag. Dazu der Schriftzug „Mögen sie uns hassen solange sie uns fürchten.“
Warum es ihm denn wichtig sei, gefürchtet zu werden, wollen wir wissen. Das habe viel mit seiner Kindheit zu tun, sagt F.. „Ich wurde halt viel vermöbelt. Und in der rechten Szenen danach hat man mich respektiert. Ich hab mir meinen Ruf erarbeitet. Und das Tattoo hat das wiedergegeben. Solange man mich fürchtet, lässt man mich in Ruhe.“
 

Gefährlich für Andersdenkene

Wichtig aber ist ihm: Das Tattoo stamme aus einer anderen Zeit. Aus der Zeit, bevor er ein Kind hatte. F., heute 30, sagt: „Ich hab mich durch meine Tochter sehr verändert. Eigentlich um 180 Grad. Und das ist auch gut so.“ Und so ist F.s zentrale Botschaft an uns: Der Michel F. von heute ist nicht mehr der Michel F. von einst. Genau diese Botschaft möchte er vermitteln. Nur deshalb ist er bereit, mit uns zu sprechen.
In der Vergangenheit, mit der F. heute nach eigenen Worten abschließen will, spielt Gewalt eine große Rolle.
Eine dreistellige Zahl an Strafanzeigen hat er gesammelt – mindestens 40 Verfahren mündeten daraus. Die Vorwürfe: Körperverletzung, räuberische Erpressung, Verwendung von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Raub, Nötigung, Beleidigung. „Damals war das für mich wie eine Auszeichnung“, sagt F.
Ob er für Andersdenkende gefährlich gewesen sei, fragen wir. „Ja“, sagt F.. „Ich hab mich auch gerne schicken lassen. Wenn mir gesagt wurde ‚Der und der muss mal eine reinkriegen‘, dann hat er auch eine reingekriegt.“

Die "Oidoxie-Streetfighting-Crew" posiert.

Die „Oidoxie-Streetfighting-Crew“ posiert. Die Gruppe ist eine Art Saalschutz und Security-Dienst der Neonazi-Band „Oidoxie“. Sie gilt als mögliche Schnittstelle zwischen dem NSU und der rechten Szene in Hessen.

Lebensmotto „Hardcore“

F.s Zeit in der rechtsextremen Szene endete – so sagt er – im Knast. Zwei Jahre saß er in Wiesbaden ein. Wegen mehrfacher Körperverletzung. Er habe während der Haft viel Zeit zum Nachdenken gehabt und „viel Kontakt zu Ausländern gekriegt, denen ich halt vorher immer abgeneigt entgegengetreten bin.“ Bei der Entscheidung, sich von der Szene abzuwenden, habe aber auch Enttäuschung über eigene Kameraden eine Rolle gespielt. „Zumal ich ja auch für einen bekannten Rechten aus Kassel eine Straftat übernommen habe und dafür in Haft bin. Und dann noch nicht einmal ein Danke kam…“.
Experten sagen: So ein Ausstieg aus der rechtsextremen Szene ist kein leichter Schritt und ein langwieriger Prozess. Dennoch wollte sich F. nie vom Staat helfen lassen. „Ich finde, das Aussteigerprogramm ist halt für Leute, die sich nicht selbst helfen können. Und ich nehme meine Sachen selbst gerne in die Hand“, sagt er. Müsste F. sich in einem Wort selbst beschreiben, wäre es wohl das Wort, das er sich auf die linke Stirn hat tätowieren lassen: „Hardcore“. „Hardcore ist eigentlich mein ganzes Leben gewesen“, sagt er. „Hardcore Crew Cassel“ (HCC) nennt sich auch die Gruppierung, deren „Leitwolf“ F. heute ist.

Das Vereinsheim der "Cassel Hardcore Crew" (Bild: hr)

Das Vereinsheim der „Cassel Hardcore Crew“ (Bild: hr)

Kein klassischer Motorradclub, aber eine Kameradschaft, die sich rockerähnlich inszeniert. Die Mitglieder tragen die rockertypische Kutte. Und im Clubhaus sind Schriftzüge wie „HFFH“ für „Hardcore forever, forever hardcore“ zu lesen. Solche Codes sind in der Rockerszene üblich. Gegründet wurde die Hardcore Crew im niedersächsischen Uslar. F. etablierte sie auch in Kassel und versammelte um sich eine Gruppe von „Leuten, die das gleiche wollen wie ich. Einfach nur einen Familienersatz.“ Wir wollen von Michel F. wissen, warum im Kreise dieses Familienersatzes ausgerechnet ein weiteres Ex-Mitglied der „Oidoxie Streetfighting Crew“ seinen Platz fand. Im Internet kursieren Fotos des Neonazis Danyel H. in HCC-Kutte. Auch das aber, sagt F., sei Vergangenheit. „Ich hab allen immer gesagt, (…) dieses Rechte, das bleibt fern. Und wer da nicht spurt, fliegt raus.“ Und laut F. hat Danyel H. in diesem Punkt nicht gespurt. Auch dass die erste Hardcore Crew aus Uslar durch Kontakte in die rechte Szene aufgefallen war, ficht ihn nicht an. Das sei gegen alle Absprachen gewesen. Daher sei die Crew in Uslar längst aufgelöst worden.

„Mir glaubt halt keiner“

Den konsequenten Umgang der Hardcore Crew mit rechtem Gedankengut führt F. als Beleg dafür an, dass auch er selbst sich von der rechtsextremen Szene gelöst habe. Und auch Personen aus seinem direkten Umfeld bestätigen: Der Michel von heute sei ein ganz anderer als der Michel von damals. Schließlich engagiere er sich heute etwa für Benefizaktionen des Vereins „Biker und Triker helfen kranken Kindern“. „Wenn ein Mensch sich nicht geändert hat, stellt sich mir die Frage, wieso er uns dann helfen sollte“, schreibt uns dazu die Mutter eines schwer kranken dreimonatigen Mädchens. Auch andere Fürsprecher sagen: Man dürfe ihm eine zweite Chance nicht verbauen. Und Michel F. selbst beklagt: „Mir glaubt es halt keiner. Das ist das Problem, das ich habe.“
So werde er in den sozialen Netzwerken immer wieder von Jugendlichen angeschrieben mit der Bitte, sie mit der rechten Szene zusammen zu bringen. „Ich sag dann immer ‚Leute, könnt Ihr nicht lesen? Ich hab damit nichts zu tun‘.“ Im Gegenzug werde er dann beschimpft, als „Scheiß Aussteiger“ oder Schlimmeres. F. grinst. „Dann auf einmal glauben sie’s doch…“.
Das ist einer der Momente des Interviews, in denen Michel F. uns sehr offen begegnet und sehr bereitwillig über sich und seine Erfahrungen spricht. Aber es gibt auch andere Momente. Momente, in denen er verschlossener wirkt. Fast wortkarg. In denen er spürbar drauf achtet, nicht zu viel zu sagen. Wenn es um Kontakte zu anderen zentralen Figuren der rechtsextremen Szene geht zum Beispiel, oder um den NSU.

Eine Begegnung mit Uwe Mundlos?

In einer Vernehmung im Jahr 2012 hatte F. ausgesagt, kurz vor dem Mord an dem Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat den Rechtsterroristen Uwe Mundlos bei einem Konzert der Neonazi-Band „Oidoxie“ in Kassel gesehen zu haben. „Oidoxie“ stammt aus Dortmund, also der Stadt, in der es ebenfalls einen Mord gab, der dem NSU zugeschrieben wird – nur zwei Tage vor den tödlichen Schüssen auf Halit Yozgat in Kassel. Bis heute ist ungeklärt, ob der NSU bei der Vorbereitung seiner Morde Unterstützung hatte – und wer möglicherweise die Tatorte auskundschaftete.
Die Band „Oidoxie“ und die mit ihr verbundene „Streetfighting Crew“ werden in diesem Zusammenhang von Beobachtern der Szene als mögliche Schnittstelle zwischen dem NSU und den regionalen Neonaziszenen in Kassel und Dortmund gehandelt. Und so fragen auch wir uns, wie schon die Polizei, wie auch der NSU-Untersuchungsausschuss: Was hatte es auf sich mit der Begegnung mit Uwe Mundlos, wie F. sie erstmals 2012 geschildert hatte?
Das NSU-Trio: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (v.l.n.r.) (Bild: dpa)

Das NSU-Trio: Beate Zschäpe, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos (v.l.n.r.) (Bild: dpa)

Das erwähnte „Oidoxie“-Konzert in Kassel fand im Clubhaus der Rockergruppierung „Bandidos“ statt, nicht weit vom späteren Tatort entfernt. Doch als wir F. nun nach diesem Konzert fragen, bleiben seine Antworten vage. Er sei sich „ziemlich sicher“, dass er „jemanden“ des NSU gesehen habe, sagt er. Aber ob es nun Uwe Mundlos gewesen sei oder vielleicht doch Uwe Böhnhardt, das wisse er nicht mehr. Festlegen mag er sich auch nicht, dass diese Begegnung überhaupt bei dem erwähnten Konzert in Kassel stattgefunden hat: „Das ist schon ein paar Jahre her“, und er könne nur sagen, dass es „entweder da war oder woanders.“ Das Gefühl, dass er ernsthaft an der Aufklärung der NSU-Morde und möglichen Verbindungen in der rechte Szene in Kassel mitwirken möchte, vermittelt er uns nicht.

Ermittlungen eingestellt

Im Juli 2015 hatte die Staatsanwaltschaft Kassel Ermittlungen gegen Michel F. aufgenommen. Die Behörde ging dem Verdacht nach, F. habe geplant, zwei Pistolen zu verkaufen. Sein mutmaßlicher Kunde: ein Musiker aus Dortmund – ein ehemaliges Mitglied der Neonazi-Band „Oidoxie“. Die Ermittlungen sind inzwischen eingestellt. Der Anfangsverdacht des Waffenhandels habe sich nicht erhärtet, so die Staatsanwaltschaft. Den Kontakt zu einem ehemaligen „Oidoxie“-Mitglied allerdings bestreitet Michel F. nicht.
„Den Jungen, den kannte ich schon seit ich 15 bin, und dass er mit „Oidoxie“ was zu tun hatte, das wusste ich nicht“, ist seine Erklärung. Gut für das Image eines Aussteigers, das Michel F. von sich zeichnen möchte, sind solche Kontakte zweifellos nicht. Auch bei Facebook ist er zum Zeitpunkt unseres Interviews mit Personen befreundet, die sich in T-Shirts von „Oidoxie“ zeigen. „Ich kappe die Verbindungen noch. Das dauert halt ein bisschen länger“, sagt F.

Rocker und Neonaziszene: Rechts abgebogen?

Rockergruppen wie "Bandidos" und "Hells Angels" haben keine Berührungsängste gegenüber Neonazis. (Bild: dpa)

Rockergruppen wie „Bandidos“ und „Hells Angels“ haben keine Berührungsängste gegenüber Neonazis. (Bild: dpa)

Die großen Motorrad-Rockerclubs wie Hells Angels, Bandidos, Gremium oder Outlaws MC geben sich betont unpolitisch und ideologisch ungebunden. Dennoch tummeln sich in einzelnen Chartern und Chaptern (Ortsgruppen) auch bekannte Rechtsextreme – zum Teil sogar in führender Position. Und immer wieder öffnen die Rockerclubs ihre Clubhäuser für Konzerte von Neonazi-Bands. Wie eng sind die Verknüpfungen der beiden Szenen tatsächlich? Und haben Rocker auch im Umfeld des NSU eine Rolle gespielt? Indizien dafür gibt es.

Eine Anzeige der „AD Jail Crew“

Die Zeitschrift Bikers News ist so etwas wie Hauspostille und Bundesanzeiger der Rockerszene. In ihr veröffentlichen Rocker zum Beispiel Monat für Monat, wer in ihrem Club gerade in Ungnade gefallen und für vogelfrei erklärt worden ist („out in bad standing“).
Im Herbst 2012, knapp ein Jahr nachdem die NSU Mordserie aufgeflogen ist, erscheint in der Oktober-Ausgabe eine selbst für die Bikers News sehr ungewöhnliche Anzeige. Groß ist sie. Satte vier Spalten breit und knapp 100 Zeilen lang.
 
Anzeige in den "Biker news".

Anzeige in der Rockerzeitung Biker News

Netzwerk mit viel rechtsradikaler Symbolik

Kein typisches Format für eine „Kleinanzeige“ auf der sogenannten „Jail Mail“-Seite, der Seite für Kontakte von Knast zu Knast oder zwischen Knast und Außenwelt. Auffällig ist aber auch der Inhalt. Denn die Anzeige stellt eine Nähe her zwischen zwei Milieus, die in der öffentlichen Wahrnehmung eher nebeneinander existieren: eine Nähe zwischen Rockern und Rechtsextremen. Die Anzeige wirbt für die so genannte „AD Jail Crew (14er)“, ein rechtsextremes Gefangenen-Netzwerk, angeblich gegründet in der JVA im hessischen Hünfeld. Ausgerechnet am 20.4.2012, dem Geburtstag Adolf Hitlers. Ein Zufall? Kaum. Denn auch der Name des Netzwerks weist auf die Gesinnung seiner Mitglieder hin: „AD“ steht für „Aryan Defence“, den so genannten arischen Widerstand. Und als „14er“ gelten in der Szene Menschen, die sich auf die sogenannten „14 words“ des 2007 verstorbenen Rechtsextremisten David Eden Lane berufen: „We must secure the existence of our people and a future for white children.“
In Kürze: „Wir müssen den Fortbestand der weißen Rasse sichern“. Als Ansprechpartner für die „Jail Crew“ wird Bernd Tödter genannt. Kein Rocker, sondern ein polizeibekannter Neonazi aus Kassel. Er gehörte zu den Gründern der Kasseler Sektion des inzwischen verbotenen Neonazi-Netzwerks „Sturm 18“. Als Tödter die Anzeige schaltet, ist er selbst Häftling in Hünfeld. Der Neonazi sucht gezielt Kontakte zu Rockern in deutschen Gefängnissen und mischt daher in der Anzeige rechtsextreme Sprachsymbolik mit Rocker typischem Jargon: Von einem gemeinsamen „Patch“ (Abzeichen) ist die Rede und von Brüdern, „die trotz verschiedener Colour an einem Strang ziehen“ (Colour = Clubabzeichen).
Außerdem davon, dass das Netzwerk alle MCs (Motorcycle Clubs) respektiere, keine „Gebiets- oder sonstige Ansprüche“ habe und schließlich, dass es allen eine „schrott- und bullenfreie Saison“ wünsche.
 

Kontakte zum NSU?

Besondere Brisanz bekommt Bernd Tödters Werben um die Rocker dadurch, dass er zeitgleich auch die Nähe zum NSU sucht. Bei einer Zellendurchsuchung im April 2013 finden Beamte bei ihm eine Adressliste. Einer der Namen darauf: Beate Zschäpe. Dass Tödter tatsächlich Kontakt zur einzigen Frau im NSU-Trio hatte, ist nicht erwiesen. Auch nicht, ob er die beiden NSU-Männer Böhnhardt und Mundlos kannte und getroffen hat. Genau das hatte er bereits im Dezember 2011 behauptet, zehn Monate vor seiner Anzeige in der Bikers News. Damals bietet er dem hessischen Landesamt für Verfassungsschutz Informationen über den NSU an – unter anderem Hintergründe über den Mord an dem Kasseler Internetcafé-Betreiber Halit Yozgat. Doch Details will Tödter nur liefern, wenn ihm die Behörden in Sachen Haftentlassung entgegen kommen.
Darauf aber lässt sich der Generalbundesanwalt nicht ein, wohl auch, weil er Zweifel an der Wahrhaftigkeit der Aussagen hat. Und drei Jahre später will auch Tödter von alledem nichts mehr wissen. Als er im Januar 2015 im NSU-Prozess in München aussagt, bestreitet er jegliche NSU-Kontakte. Er habe den Behörden die ganze Geschichte nur „aus einem Spaß heraus“ aufgetischt, um Hafterleichterungen herauszuhandeln.
„Schaumschlägereien eines einflussreichen Neonazis“, nennt Zeit Online damals Tödters Taktik. Doch es bleiben Zweifel: Hat dieser „einflussreiche Neonazi“ tatsächlich 2011/12 in den Vernehmungen gelogen? Oder vielleicht doch erst 2015 im Prozess? Ein mögliches Motiv: Tödter könnte sich entschieden haben, lieber nicht als Verräter da zu stehen.
 

Ein Kronzeuge packt aus

Der Fall Bernd Tödter ist nur ein Indiz, das auf eine Nähe zwischen Rockern und Rechtsextremen und damit verbunden zwischen Rockern und dem NSU hinweist. Doch es gibt weitere. Ende 2011 meldet sich ein Rechtsanwalt bei den Behörden. Am Rande eines Prozesses vor dem Erfurter Landgericht gegen Mitglieder des
Rockerclubs Bandidos sei er von einer Frau angesprochen worden. Einer Frau, die er später aufgrund der Berichterstattung über den NSU als Beate Zschäpe identifiziert habe. Und auch ein Prozesszuschauer will Beate Zschäpe gesehen haben. Gleich zweimal, 2010 und 2011.
 
Das Landgericht Erfurt verhängte in dem Prozess für Straftaten von Körperverletzung bis versuchten Totschlag bis zu neuneinhalb Jahre Haft. (Foto: Martin Schutt dpa/lth)

Das Landgericht Erfurt verhängte in dem Prozess für Straftaten von Körperverletzung bis versuchten Totschlag bis zu neuneinhalb Jahre Haft.
(Foto: Martin Schutt dpa/lth)

Zschäpe als Zuschauerin in einem Bandidos-Prozess? In einem polizeilich gesicherten Justizgebäude? Ist das vorstellbar? Tatsächlich könnte sie sich für die Verhandlung interessiert haben. Denn in Erfurt sagt auch ein Kronzeuge gegen die Bandidos aus. Marco M., genannt Memo. Er gehörte einst zur Führungsriege des Bandidos-Charters Jena mit Sitz in Weimar. Nun packt er aus. Memo berichtet, dass die Rockerszene zu Zeiten der NSU-Mordserie gezielt versucht habe, neue Mitglieder in der Hooligan- und der rechten Szene zu rekrutieren. Hintergrund: die zunehmenden Machtkämpfe rivalisierender Rockerclubs. Ausgetragen werden sie seinerzeit mit roher Gewalt. Daher brauchen die Clubs dringend schlagkräftige Anhänger. Und so sucht auch Memo für die Bandidos nach neuen Membern (Mitgliedern) – in der rechtsextremen Szene.

Begegnung mit Beate Zschäpe? – „Kein typisches Naziweib“

Bei einer Party mit mehreren „Glatzköpfen“ 2006 in Jena sei ihm dabei eine Frau aufgefallen, sagt der Kronzeuge aus. Sie habe nicht ausgesehen wie ein „typisches Naziweib“. „Solide“ und „ordentlich angezogen“ sei sie gewesen. Und vorgestellt habe sie sich „wie ein Soldat“ – mit Namen „Beate Zschäpe“.
Polizei und Verfassungsschützern liegen noch mehr solcher Hinweise vor. Hinweise auf Verbindungen zwischen Mitgliedern der Rockerszene und
Rechtsextremen, auch Rechtsextremen im Umfeld des NSU. Ein eindeutiges Bild aber, welche Rolle das Rockermilieu tatsächlich für Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos gespielt hat, lässt sich daraus bisher nicht ableiten. Der NSU-Untersuchungssauschuss des hessischen Landtags will deshalb noch Ulrich Detrois befragen. Detrois war einst einer der führenden Köpfe der Hells Angels in Kassel. Szenename: Bad Boy Uli.
 

Rocker und Rechtsextreme: Keine besonderen Berührungsängste

Offensichtlich ist bisher nur: Besondere Berührungsängste hatten und haben Teile der Rockerszene nicht, wenn es um rechtsextremes Gedankengut geht. Mal darf ein Neonazi und „Sturm 18“-Mitglied wie der Kasseler Stanley R. seinen 30. Geburtstag im Clubhaus der Bandidos feiern. Mal öffnen Rocker ihre Räume für Konzerte rechtsextremer Bands. Mal dulden sie führende Köpfe der rechtsextremen NPD in ihren Reihen – die Bandidos zum Beispiel den bayrischen NPD-Funktionär Sascha Roßmüller oder die Hells Angels den früheren NPD-Landesvorsitzenden Schleswig-Holsteins Peter Borchert, der sogar Vize-Präsident des inzwischen verbotenen Charters Neumünster war. Rechtsextremismus-Forscher wie Benno Hafeneger von der Uni Marburg
beobachten seit langem „ideologische Schnittflächen“ zwischen Rockern und Rechtsextremen. Hafeneger spricht von „Mustern, die sich in beiden Milieus finden“, Muster der „Inszenierung harter Männlichkeit“ und dem „Staat als Feind“, Muster einer „Distanz zur bürgerlichen Gesellschaft“, Muster von „Technikkult“ und „Uniformierung“. „Die Gemeinsamkeiten darf man nicht unterschätzen“, sagt Hafeneger. Dennoch führten sie bisher nur „punktuell“ zu engeren Verknüpfungen beider Szenen: „Es ist keine Entwicklung im Gange, zu der man sagen könnte, hier bewegen sich zwei Kulturen aufeinander zu, und das bekommt eine neue Brisanz.“ Während die rechtsextreme Szene vor allem politisch geprägt sei, stünde im Fokus der Rockerszene vor allem das Geschäftemachen, oft im Rotlichtmilieu.
 

Rockerclubs als Auffangbecken für Rechtsextreme

In Kassel feierten Neonazis im Clubhaus der Bandidos. (Bild: dpa)

Dennoch: Die ähnlichen Wertvorstellungen, wie Hafeneger sie beschreibt, sind Basis für Wechsel von der einen Szene in die andere, insbesondere Wechsel von Rechtsexextremen ins Rockermilieu. In Kreisen deutscher Rocker seien „eine Menge Leute dabei, die wir aus der Neonazi-Szene kennen“, sagt der Historiker Nikolaus Brauns, Bundestagsreferent der Linken. Die Betroffenen würden zwar als Rocker ihre Gesinnung nicht ändern, müssten sie aber „hinten anstellen“. Denn viele Rockerclubs seien inzwischen zu multiethnisch zusammengesetzt, als dass Rechtsextreme in ihren Kreisen ihre Gedanken ausleben könnten. „Die Rockerclubs tragen so ein Stück weit zur Entpolitisierung von Neonazis bei“, sagt Brauns. Allerdings könne man über die Rocker auch sagen: „Links, anti-faschistisch sind die alle nicht.“

„Sympathien sind vorhanden“

„Ich denke, dass viele MCs keine Probleme haben, ehemalige oder noch aktive Rechtsextremisten einzugliedern, weil Sympathien oder versteckte Sympathien vorhanden sind“, sagt Oliver Podjaski, ehemals Sänger der Neonazi-Band „Hauptkampflinie“ und heute Aussteiger aus der Szene im Interview mit hr-iNFO und der Hessenschau. Auch seien Rockerclubs immer mal wieder Auffangbecken für „einen Rechtsextremisten, der vielleicht ein bisschen zur Ruhe kommen will, (…) der sagt: ‚Eigentlich hat sich an meiner Meinung gar nichts geändert, aber ich
möchte das nicht mehr hier‘.“ Und noch einen Grund sieht Podjaski, für ein Interesse der rechtsextremen Szene am Rockermilieu: nämlich die in den Clubs etablierten Strukturen. „Ich habe früher gesagt: ‚Schaut euch mal die Rocker an! Was die auf die Beine stellen. Die bauen sich ein Mannschaftsheim. Der eine ist Fliesenleger. Der nächste ist Gas-Wasser-Installateur. Der nächste ist Dachdecker. Die schaffen da richtig was.“
 

Eine Hardcore Crew mit „Leitwolf“

Podjaski ist nicht der einzige Rechtsextreme, der mit Respekt, vielleicht sogar mit Bewunderung Richtung Rockerszene schielte und sie sich zum Vorbild nahm. Ein weiteres Beispiel: Michel F. aus Kassel. Schon in jungen Jahren wurde er Mitglied der rechtsextremen Szene, gehörte unter anderem zu Sturm 18. Einen Einblick, was es heißt, ein Rocker zu sein, bekam er zunächst bei den Bandidos Kassel – bis die ihn „rausschmissen“, wie F. es ausdrückt. „Sein Gastspiel bei uns im Club währte sehr kurz“, schreiben dazu die Bandidos auf Anfrage von hr-iNFO – und lassen im Weiteren kein gutes Haar an Michel F. Der dagegen beteuert, „ein paar Jahre“ bei den Rockern gewesen zu sein und es sogar bis zum „Sergeant at Arms“ gebracht zu haben, einer der Führungspositionen in Rockerkreisen.
„Wer einmal Kutte trägt, vermisst die Kutte“, sagt F. Und so streifte er sich nach seinem Rauswurf bei den Bandidos eine neue Lederweste über. F. ist heute „Leitwolf“ der sogenannten „Hardcore Crew Cassel“ (HCC), einer Gruppierung, die nicht nur Kutten trägt, sondern sich auch weiterer Symbolik der Rockerszene bedient. Im Gespräch mit hr-iNFO und der Hessenschau betont F. heute, seine
rechte Vergangenheit hinter sich gelassen zu haben. So habe sich die HCC etwa bewusst von rechtsextremen Mitgliedern, wie früheren Weggefährten F.s aus dem Neonazi-Umfeld getrennt.
Für die Aufklärung der Morde des NSU spielt F. bis heute eine Rolle, weil auch er offenbar Berührungspunkte mit Mitgliedern des NSU hatte. Bei einer polizeilichen Vernehmung vor rund drei Jahren sagte er aus, Mundlos und vielleicht auch Böhnhardt begegnet zu sein. Böhnhard habe er möglicherweise auf einer Party in Thüringen gesehen, gab F. auch im NSU-Untersuchungsausschuss des hessischen Landtags zu Protokoll. Aufgrund der „markanten Gesichtszüge“ sei er sich „zu 80 Prozent sicher“. An Mundlos wiederum glaubt sich F. im Zusammenhang mit einem Konzert der Neonazi-Band „Oidoxie“ erinnern zu können. Das Konzert fand keine drei Wochen vor dem Mord an Halit Yozgat statt, am 18. März 2006. Ort des Konzerts: das damalige Klubhaus des Rockerclubs Bandidos Kassel. Das lag nur gut 1.200 Meter Luftlinie von der Holländischen Str. 82 entfernt – und damit von dem Internetcafé, in dem Yozgat erschossen wurde.

Der Aussteiger

„Das ist das, worauf Rechtsextreme hoffen“: Oliver Podjaski spricht darüber, wie die rechtsextreme Szene die aktuelle Flüchtlingssituation für sich instrumentalisiert.

 

Kräftige Statur, auf dem Kopf eine schwarze Mütze, Ohrring, die muskulösen Oberarme voller Tätowierungen. Oliver Podjaski ist keiner, der sich schnell beeindrucken lässt. Seit einigen Monaten macht er sich aber Sorgen – darüber, was sich in der rechtsextremistischen Szene zusammenbraut. Die Signale seien deutlich. Der Hass in den sozialen Netzwerken. Vor allem das Gefühl: Wir sind nicht mehr alleine, jetzt ist unsere Zeit gekommen. „Rechtsextreme hoffen auf eine Eskalation der Situation, das ist gewünscht und wird gefördert“, sagt Podjaski. Hass werde gezielt geschürt: Mit Falschmeldungen oder „platten, pauschalen Meldungen“ darüber, wie viel Geld ein Asylsuchender vom Staat bekommt – ohne zu erwähnen, dass der genannte Betrag für die komplette Versorgung einer Person gedacht ist und nicht bar ausgezahlt wird. Die Situation werde genutzt, um auch „Normalbürger“ aufzuhetzen, sie auf ihre Seite zu ziehen und sie auf die Straßen zu bekommen. Der Schritt zu Anschlägen, Attentaten sei da nur noch klein. Oliver Podjaski war viele Jahre mittendrin in der Szene – wenn gegen Ausländer gehetzt, das „Dritte Reich“ verherrlicht wurde.
Der Einstieg war leicht. Eine deutsch-nationale Einstellung habe er schon in seiner ganzen Jugend gehabt. Er sei ein Eigenbrötler gewesen, habe immer Probleme gehabt, Kontakte zu knüpfen. Mit den vielen ausländischen, vor allem türkisch-stämmigen Mitschülern in seiner Schule sei das noch schwieriger gewesen. Die seien einfach „anders“ gewesen. „Die gehören hier nicht her“, dachte er. Er hatte das Gefühl, „fremd im eigenen Land zu sein.“ Unterstützt wurde diese Denkweise durch fremdenfeindliche Ressentiments im Elternhaus. Heute, Jahre später, beschreibt Oliver Podjaski im Interview mit hr-iNFO die damalige Situation mit einem bemerkenswerten Satz: „Ich gebe das offen zu – ich bin ein Mensch, der eigentlich sein Leben lang Angst hatte, von der Kindheit über das Jugendalter. Und ich denke, jemand der Angst hat, baut sich auch einen Schutzmechanismus auf. Er fängt an, eine Abwehrhaltung einzunehmen und ist vielleicht bereit, Radikalität gar nicht mehr zu hinterfragen und fragt nicht, ob das eigentlich richtig oder falsch ist. Er sagt halt einfach: Nein, ich wehr‘ mich, ich mache jetzt die Schotten dicht und bin für Argumente nicht mehr empfänglich.“
 

Rassenhass zum Mitgrölen

Damals wählte Podjaski erst die NPD, wurde dann Mitglied der Partei Die Republikaner und fand den Kontakt in die rechtsextreme Szene. Weil er Musiker war, vor allem in die Musikszene. Er wollte seine „politische Meinung in Musik fassen“ und gründete seine eigene Band: „Hauptkampflinie“. Obwohl längst aufgelöst, ist sie eine der bekannten Szene-Bands. Musik spielt im Rechtsextremismus eine große Rolle, sagt Podjaski. Neonazis, die zum Beispiel auch im Münchner NSU-Prozess aussagen, betonen immer wieder die Bedeutung des Rechts-Rocks: Bei Konzerten trifft man sich, die Texte liefern Gewalt und Rassenhass zum Mitgrölen. Er habe Futter vorgeworfen, sagt Podjaski, mit der Absicht zu zündeln, aufzuhetzen, etwas zu bewegen. Sein Ziel: die nationale Revolution.
Irgendwann begann er zu zweifeln. Er hat sich Fragen zu den Inhalten rechter Propaganda gestellt, sich gefragt, ob er wirklich daran glauben kann. Etwa: Glaubst Du wirklich, dass alle Schwarzen stinken? „So ging ich viele Punkte der rechten Weltanschauung durch und die Antwort war immer wieder: Nein, daran kannst Du doch nicht glauben.“ Auch mit den Gewaltexzessen habe er nie etwas zu tun haben wollen, sagt Podjaski heute. Leute, die Obdachlose und Behinderte verprügelten, habe er immer als Abschaum betrachtet. Aber irgendwann habe er gemerkt: Er liefert mit seinen Songs den Soundtrack zum Prügeln, er legt die geistigen Waffen in die Hände der Gewalttäter. Ihm wurde bewusst, dass er ein „Zahnrad dieses ganzen Systems“ ist und er sich „nicht von der Schuld freisprechen kann.“
 

Öffentlicher Ausstieg

Die Konsequenz im Jahr 2009: Podjaskis Ausstieg – ganz bewusst öffentlich. Über das linke Portal „Oire Szene“ verkündete und begründete er seine Entscheidung. „Ich bin kein Rechtsextremist mehr“ – diese Botschaft sollten alle mitbekommen. Ein bis heute schwerer Weg. Skeptiker nehmen Oliver Podjaski seinen Ausstieg nicht ab, für die rechte Szene ist er ein Verräter. Die Vergangenheit holt Oliver Podjsaki immer wieder ein, er bekommt noch immer Anrufe, teilweise auch Drohungen.
Und viele Veranstalter sehen von einer Buchung seiner neuen Band ab, weil sie seine Vorgeschichte kennen. „Das Problem ist immer präsent, auch heute noch,“ sagt Podjaski. „Das ist das Erbe, was ich davon habe.“

Hören Sie hier das ganze Interview von Oliver Günther mit Oliver Podjaski:

 

Szenetypische Erkennungsmerkmale

Springerstiefel, Bomberjacke und kahler Schädel sind heute längst nicht mehr der typische Look eines Rechtsradikalen. Starre Kleidercodes innerhalb der Szene lösen sich immer mehr auf. Auch die verwendeten Symbole haben sich stark verändert. Allzu offensichtliche wurden durch solche ersetzt, die zwar in der Szene bekannt, aber für Außenstehende meist nicht zu deuten sind. Selbst Experten fällt es mittlerweile schwer, szenetypische Erkennungsmerkmale eindeutig zu identifizieren. Und dennoch gibt es Anhaltspunkte, anhand derer erkennbar ist, ob Jugendliche sich der neonazistischen Jugendszene zugehörig fühlen. So beispielsweise Anspielungen auf das Dritte Reich oder die germanisch-heidnische Vergangenheit. Die Darstellung von Elementen der nordischen Mythologie ist für die extreme Rechte ein wesentlicher Bestandteil der Identitätsstiftung.
Als Erkennungszeichen untereinander werden Anstecker, Aufnäher und Symbole verwendet, die auf den ersten Blick unverdächtig sind, wie beispielsweise die schwarze Sonne, der Thorshammer oder die Lebensrune. Auch Zahlencodes werden verwendet.
Bestimmte Kleidungsmarken wie Consdaple oder Thor Steinar weisen ebenfalls auf eine rechtsextreme Gesinnung hin. Consdaple wird in der Szene vor allem wegen der Buchstabenkombination „NSDAP“ getragen. Auch Lonsdale galt aus diesem Grund lange als typische Kleidung von Rechtsextremen. Der Sportartikelhersteller hat sich aber nach Einschätzung des Bundesamtes für Verfassungsschutz glaubwürdig von der Szene distanziert und wird heute vielfach von Rechtsextremen gemieden.
 
Quelle: Projekt "Gewalt geht nicht", Kreisausschuss Schwalm-Eder

Quelle: Projekt „Gewalt geht nicht“, Kreisausschuss Schwalm-Eder

Hilfe zum Ausstieg

Für Jugendliche, die mit der rechtsextremen Erlebniswelt sympathisieren, gibt es bundesweit und in Hessen zahlreiche Hilfsangebote: So beispielsweise das Projekt „Rote Linie – Hilfen zum Ausstieg vor dem Einstieg“. Hier geht es vor allem darum, Jugendliche in der Phase anzusprechen, in der sie zunächst mit rechtsextremen Gedanken oder Gruppierungen sympathisieren, aber noch nicht aktive Mitglieder sind. Das Projekt bündelt seit 2010 Angebote von Jugendarbeit, Elternberatung sowie Ausstiegshilfen. Auch für Aussteiger aus der rechten Szene gibt es Unterstützung, so zum Beispiel über das Programm IKARus des Landes Hessen. Über eine Telefonhotline oder ein Formular auf der Webseite findet der Erstkontakt statt.
Danach wird die Situation und Motivation des Aussteigers geklärt. Denn entscheidend ist, ob die betreffende Person wirklich die Absicht hat, aus der Szene auszusteigen oder ob es sich um eine rein strategische Entscheidung handelt, um bei einem anstehenden Strafverfahren vor Gericht besser dazustehen. Wer mit Hilfe von IKARus aus der rechten Szene aussteigen will, muss 16 Bedingungen erfüllen. Darüber hinaus bietet das Landesamt für Verfassungsschutz seit 2008 über sein Kompetenzzentrum Rechtsextremismus (KOREX) zahlreiche Fortbildungsangebote für Lehrkräfte und Sozialarbeiter.

 

 

Diskutieren Sie mit uns auf Facebook!

„Hessens Rechte auf dem Vormarsch“ – eine Multimedia-Reportage von hr-iNFO.

Redaktion: Christina Sianides
Autorenteam:
Heike Borufka, Nicholas Buschschlüter, Franco Foraci, Oliver Günther, Thomas Kreutzmann, Michael Przibilla, Christina Sianides, Henning Steiner
(unter Mitarbeit von Carsten Meyer und Sandra Müller)

Grafik: Saskia Schmidt
Produktion: Alexandra Müller-Schmieg

Eine Produktion des Hessischen Rundfunks 2016

cc